CD-Kritiken 1999

von Andreas Diesel, Neunkirchen, dem Autor von »Spiegelschatten«

 


Ataraxia • »Historiae« • Cruel Moon International/Cold Meat Industry & »Os Cavaleiros Do Templo« (CD & VHS) • Symbiose/Vortex

Nachdem seit der letzten Veröffentlichung des Ensembles aus dem italienischen Modena, »Concerto No. 6 – A Baroque Plaisanterie« (1996), einige Zeit ins Land ging, gibt es nun eine ganze Reihe von neuen Aufnahmen, von denen das aktuelle Studioalbum »Historiae« (das sich in äußerst gelungener Aufmachung darbietet und auch in der Vinylversion die Ästheten unter den Plattensammlern anspricht) sicherlich die zentrale ist. Wo man auf dem Vorgänger auf manchmal skurrile, aber immer gelungene Weise den großen Namen des italienischen Barock wie Vivaldi und Corelli eigenständigen Tribut zollte, geht die Reise nun einmal mehr ins Mittelalter, doch dieses Mal so konsequent wie noch nie zuvor in der Geschichte der Gruppe. Schon das Konzept ist äußerst ausgereift und charmant: der Hörer soll sich zurückversetzt fühlen in die verwinkelten Gassen einer mittelalterlichen Stadt, wo er gemeinsam mit Musikern und Gauklern von uralten Sagen, Gedichten und Liedern hört. Der Reigen wird angeführt von einem triumphalen Marsch namens »Hydra Hyali«, der von der Suche der Tempelritter nach dem Gral im Orient erzählt. Die wie stets dominierende Stimme von Francesca Nicoli wird dabei erstmals von dem Bariton eines gewissen Giorgio Buttazzo begleitet, was auf weitere Zusammenarbeiten in der Zukunft hoffen läßt. Eher balladeske Stücke wie »Astraea« und »Scarlet Leaves« (die musikalische Umsetzung einer irischen Legende) werden hauptsächlich von der kunstfertig gespielten klassischen Gitarre Vittorio Vandellis getragen, während »Filava Melis«, die Vertonung eines Gedichtes von Sappho, mit allerlei Schlagwerk, Posaunen und Flöten zum höfischen Tanz auffordert. »Histriona« ist die Weise eines Hofnarren und dementsprechend äußerst ausgelassen, ja fast hysterisch, und endet mit hexenhaftem Gelächter. »Antinea« hingegen ist eher getragen und bringt polyphon und sakral den der Herbstäquinox zugeordneten Studioteil zum Abschluß – denn wie viele Alben Ataraxias ist auch »Historiae« zweigeteilt. Die drei der Frühlingsäquinox zugeordneten Stücke wurden bei einem Auftritt in einem mittelalterlichen Hof mitgeschnitten und präsentieren im Gegensatz zu den Eigenkompositionen des ersten Teils Adaptionen von authentischen Stücken – »Li Frere Li Mestre Du Temple« stammt aus dem »Roman De Fauvel«, »Mundus Est Iocundum« (manchem in der Umsetzung von Carl Orff bestens vertraut) und »Mundus Furibundus« beide aus jener berühmten Benediktbeurer Handschrift, besser bekannt als »Carmina Burana«. Diese Stücke sind ganz auf Francescas einzigartige Stimme zugeschnitten, und wer im Herbst des Jahres 1997 in der Kapelle von Schloß Neuenburg ihrem Vortrag lauschen durfte, der weiß, daß sie kein Mikrophon und keinen Verstärker braucht, um die Zuhörer völlig in ihren Bann zu schlagen. Daher kann ich nur jedem raten, eines der Konzerte, die Ataraxia im Sommer in Deutschland geben wollen, zu besuchen!

Die Wartezeit bis dahin kann mit dem ebenfalls aufwendig gestalteten Boxset »Os Cavaleiros Do Templo« verkürzt werden, das auf CD und Videokassette einen letztjährigen Auftritt in Portugal zu Ehren der Tempelritter festhält. Keine gewöhnliche Livescheibe also, denn ein Großteil der Stücke wurde eigens für diese Darbietung komponiert und spiegelt die Inspirationen wieder, welche die Musiker beim Besuch der gotischen Kathedralen des Landes und anderer historischer Orte, die mit dem Orden der Tempelritter in Verbindung stehen, erhielten. In dieses Konzept (das unter anderem auch auf einen Text von Umberto Eco zurückgreift) fügen sich Stücke von anderen Alben der Gruppe wie »Lucrezia« (nach Charles Baudelaire) oder oben bereits besprochenes »Filava Melis« ohne größere Schwierigkeiten ein, während »Oduarpa« und »Aperlae« einen Vorgeschmack auf das hoffentlich bald erscheinende Album »Lost Atlantis« geben. Bei dem Video offenbart sich der Nachteil eines kleinen Budgets – die Liveaufnahmen und die surreal wirkenden Einfügungen können bei allem Charme nicht mit einem visuell wie akustisch überragenden Dokument wie dem »Toward The Within«-Film von Dead Can Dance mithalten. Für den wahren Anhänger Ataraxias sicher trotzdem ein Muß, wer sich aber zwischen den beiden aktuellen Veröffentlichungen entscheiden muß, sollte sein Augenmerk eher auf das meisterliche »Historiae« richten und sich auf die Konzerte im Sommer freuen.

Andreas Diesel, Februar 1999 · Zur Startseite




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