CD-Kritiken 1999
Ataraxia • »Historiae« • Cruel Moon International/Cold Meat Industry
& »Os Cavaleiros Do Templo« (CD & VHS) • Symbiose/Vortex
Nachdem seit der letzten Veröffentlichung des Ensembles aus dem italienischen
Modena, »Concerto No. 6 – A Baroque Plaisanterie« (1996), einige
Zeit ins Land ging, gibt es nun eine ganze Reihe von neuen Aufnahmen, von
denen das aktuelle Studioalbum »Historiae« (das sich in äußerst
gelungener Aufmachung darbietet und auch in der Vinylversion die Ästheten
unter den Plattensammlern anspricht) sicherlich die zentrale ist. Wo man
auf dem Vorgänger auf manchmal skurrile, aber immer gelungene Weise
den großen Namen des italienischen Barock wie Vivaldi und Corelli
eigenständigen Tribut zollte, geht die Reise nun einmal mehr ins Mittelalter,
doch dieses Mal so konsequent wie noch nie zuvor in der Geschichte der
Gruppe. Schon das Konzept ist äußerst ausgereift und charmant:
der Hörer soll sich zurückversetzt fühlen in die verwinkelten
Gassen einer mittelalterlichen Stadt, wo er gemeinsam mit Musikern und
Gauklern von uralten Sagen, Gedichten und Liedern hört. Der Reigen
wird angeführt von einem triumphalen Marsch namens »Hydra Hyali«,
der von der Suche der Tempelritter nach dem Gral im Orient erzählt.
Die wie stets dominierende Stimme von Francesca Nicoli wird dabei erstmals
von dem Bariton eines gewissen Giorgio Buttazzo begleitet, was auf weitere
Zusammenarbeiten in der Zukunft hoffen läßt. Eher balladeske
Stücke wie »Astraea« und »Scarlet Leaves«
(die musikalische Umsetzung einer irischen Legende) werden hauptsächlich
von der kunstfertig gespielten klassischen Gitarre Vittorio Vandellis getragen,
während »Filava Melis«, die Vertonung eines Gedichtes
von Sappho, mit allerlei Schlagwerk, Posaunen und Flöten zum höfischen
Tanz auffordert. »Histriona« ist die Weise eines Hofnarren
und dementsprechend äußerst ausgelassen, ja fast hysterisch,
und endet mit hexenhaftem Gelächter. »Antinea« hingegen
ist eher getragen und bringt polyphon und sakral den der Herbstäquinox
zugeordneten Studioteil zum Abschluß – denn wie viele Alben Ataraxias
ist auch »Historiae« zweigeteilt. Die drei der Frühlingsäquinox
zugeordneten Stücke wurden bei einem Auftritt in einem mittelalterlichen
Hof mitgeschnitten und präsentieren im Gegensatz zu den Eigenkompositionen
des ersten Teils Adaptionen von authentischen Stücken – »Li
Frere Li Mestre Du Temple« stammt aus dem »Roman De Fauvel«,
»Mundus Est Iocundum« (manchem in der Umsetzung von Carl Orff
bestens vertraut) und »Mundus Furibundus« beide aus jener berühmten
Benediktbeurer Handschrift, besser bekannt als »Carmina Burana«.
Diese Stücke sind ganz auf Francescas einzigartige Stimme zugeschnitten,
und wer im Herbst des Jahres 1997 in der Kapelle von Schloß Neuenburg
ihrem Vortrag lauschen durfte, der weiß, daß sie kein Mikrophon
und keinen Verstärker braucht, um die Zuhörer völlig in
ihren Bann zu schlagen. Daher kann ich nur jedem raten, eines der Konzerte,
die Ataraxia im Sommer in Deutschland geben wollen, zu besuchen!
Die Wartezeit bis dahin kann mit dem ebenfalls aufwendig gestalteten Boxset
»Os Cavaleiros Do Templo« verkürzt werden, das auf CD
und Videokassette einen letztjährigen Auftritt in Portugal zu Ehren
der Tempelritter festhält. Keine gewöhnliche Livescheibe also,
denn ein Großteil der Stücke wurde eigens für diese Darbietung
komponiert und spiegelt die Inspirationen wieder, welche die Musiker beim
Besuch der gotischen Kathedralen des Landes und anderer historischer Orte,
die mit dem Orden der Tempelritter in Verbindung stehen, erhielten. In
dieses Konzept (das unter anderem auch auf einen Text von Umberto Eco zurückgreift)
fügen sich Stücke von anderen Alben der Gruppe wie »Lucrezia«
(nach Charles Baudelaire) oder oben bereits besprochenes »Filava
Melis« ohne größere Schwierigkeiten ein, während
»Oduarpa« und »Aperlae« einen Vorgeschmack auf
das hoffentlich bald erscheinende Album »Lost Atlantis« geben.
Bei dem Video offenbart sich der Nachteil eines kleinen Budgets – die Liveaufnahmen
und die surreal wirkenden Einfügungen können bei allem Charme
nicht mit einem visuell wie akustisch überragenden Dokument wie dem
»Toward The Within«-Film von Dead Can Dance mithalten. Für
den wahren Anhänger Ataraxias sicher trotzdem ein Muß, wer sich
aber zwischen den beiden aktuellen Veröffentlichungen entscheiden
muß, sollte sein Augenmerk eher auf das meisterliche »Historiae«
richten und sich auf die Konzerte im Sommer freuen.
Andreas Diesel, Februar 1999 · Zur
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