Ataraxia

Träumend im Ozean

Nach ihrem sensationellen Auftritt bei den Herbstnächten fieberte ich dem angekündigten Album der italienischen Götter ATARAXIA brennend entgegen – mit  „Sueños“ in Händen wandte ich mich an Gitarrist und Sänger Vittorio Vandelli, denn es dürfte das erste ATARAXIA-Album ohne durchgehendes Konzept sein, da es in drei separat betitelte und inspirierte Kapitel, „Ego Promitto Domino“ (Ich verspreche mich Gott), „L´Ame D´Eau“ (die Liebe zum Wasser) und „Sandy Dunes“, unterteilt ist. Warum die Trennung der ansonsten bei ATARAXIA vermengten Motive Religiosität, Mediterranes und Orient? Ich konnte das Wort „Sueños“ nicht zuordnen – ist es eine chimärische Lautmalerei, die romantisch mit Begriffen wie „sign“, „sound“ oder „sand“ spielt? „“Sueños“ bedeutet im Spanischen „Träume“, doch es klingt wirklich onomatopoetisch, eine musikalische Landschaft voller versteckter Spuren und Gesänge – Musikalität von Wellen auf Sand. Es ruft den Wahnsinn, die wahre Essenz des Träumens in Erinnerung, Vorahnung, Flug und Rückkehr. Träume repräsentieren eine Paralleldimension, in der wir uns verlieren oder finden, verschiedene Wesenheiten treffen, unerwartete Abenteuer erleben können. Der Traum ist das Land der Imagination, steht aber trotzdem auch für unsere Begrenztheit, Urängste und Bedürfnisse. Eine Reise an einen Ort, an welchem uns die Schlüssel zu noch entfernteren Dimensionen erwarten. Atmosphäre und Musik von „Sueños“ sollen dich in diese Stimmung versetzen – während einer Nacht kann man Dutzende von Träumen durchleben, die nichts miteinander zu tun haben. So auch die drei Teile des Albums: vordergründig drei verschiedene Traumdimensionen, doch gibt es einen Pfad, der alle kreuzt und dich durch diese sinnbildliche Reise zur Erkenntnis deiner selbst führt. Der erste Teil ist denn auch inspiriert vom mittelalterlichen „Suche“-Thema –  das Unbekannte durchstreifen, Länder im Osten, Neugier ist größer als Furcht. Er weist sakrale Elemente auf, doch auch das Kraftvolle und Rhythmische altertümlicher Musik. Der zweite Teil ist meditativ und nostalgisch, trauriger Spiegel unserer innersten und intimsten Seelenlandschaft. In Anbetracht des Meeres und der sich brechenden Wellen am Strand sollten wir anhalten und uns in uns selbst versenken. Wir stehen allein Vergangenheit und Gegenwart gegenüber; hier müssen wir uns unseren Qualen und Hemmungen stellen, die Dünen überwinden, den magischen und geheimnisvollen Orient zu erreichen. Der dritte Teil steht für den Kontakt mit fremden Kulturen und Menschen, das Lernen voneinander, den Austausch, aber auch Kampf und Krieg. Leben und Tod, Begräbnis und Wiedergeburt im warmen Wasser des Golfes von Aqaba im Roten Meer. Der letzte Schritt führt uns zum Berg Nemrut und dem riesigen Mausoleum von Antioco. Dort blicken wir ins Angesicht der Geschichte und den Sinn unseres Lebens, fragen uns, ob wir gelebt haben, ob es das alles wert war, ob wir unser Gleichgewicht gefunden haben. Das Leben ist eine Reise, und die Gestaltung dieser Reise ist der „Sinn des Lebens“.“ Poetische Worte. Warum aber ist der zweite, dem Wasser gewidmete Teil ausschließlich von Francesca gesungen, ohne die ATARAXIA-typischen männlichen Harmonien und Chöre? Man setzt ja gemeinhin die Stille, die Wärme und die Geborgenheit der Unterwasserwelt mit einem Uterus gleich, doch die Wellen, die Kraft und die Zerstörung darüber eher mit dem Männlichen, das im mediterranen Kulturkreis die Götter Neptun und Poseidon repräsentieren. „Wasser ist ein androgynes, geheimnisvolles Element. Das wäßrige Universum läßt die Dinge in einem anderen Licht erscheinen, weich, vibrierend, eine außersinnliche Welt. Das Wasser des Meeres erschafft Geburt und Tod, wir finden Ruhe und ewige Wiedergeburt, Harmonie und Urkraft. Ich erachte das Meer für einen Moment von Reflektion und Nostalgie, seine Farben, der endlose, stets wiederkehrende Klang der Wellen, die hypnotische Atmosphäre – etwas Fernes, Verlorenes, Schmerzvolles... Manchmal möchte ich angesichts des Meeres von der Welt abgeschnitten werden, in der Gischt verschwinden.“ Die Kapitel bilden meiner Ansicht nach eine Trinität: Himmel, Wasser und Erde – drei der vier Elemente, im übertragenen Sinn Gott (Domino), die Menschheit (Wüste) und das Dazwischen, halb menschlich, halb göttlich, das Meer. „Interessante These! In allen vorhergehenden Alben haben wir ein oder mehrere Elemente behandelt: „Lost Atlantis“ und „La Malédiction D'Ondine“ porträtierten das Wasser, „Simphonia Sine Nomine“ und „Il Fantasma Dell´ Opera“ die Erde in Form der Steine, „The Moon Sang On The April Chair“ das Feuer, „Sueños“ alle Elemente. Diese Reise bedeutet auch ein symbolisches Durchqueren der vier Elemente, vier Wege zu den Dingen, vier unterschiedliche, korrespondierende psychische Zustände. Das Göttliche, das Menschliche und die Natur sollten, wie in alten Zeiten, als eine tiefe Verbindung begriffen werden – das ist der einzige Weg, das Gleichgewicht auf Erden zu finden.“ Mit der Chitarra Battente und dem Tamburo A Spicchi werden auch zwei neue Instrumente in den Soundkosmos von ATARAXIA integriert. „Die Chitarra Battente, also „Schlaggitarre“, ist ein typisch mittelalterliches Instrument, eine Art frühe klassische Gitarre, im früheren Italien von großer Bedeutung. Der Tamburo A Spicchi ist eine Mittelalter- und Renaissance-Trommel, gewöhnlich wegen ihrer mächtigen Rhythmen in Paraden und im Krieg benutzt. Der Klang ist ähnlich den Timpani, und zumeist trug er zwei Farben, welche die Stadt oder „Contrada“ des Spielers symbolisierten.“ Stellt ihr eure Kenntnisse der Transnotation historischer Musik und historischer Instrumente auch Instituten oder Einrichtungen, die sich dieser Thematik widmen, zur Verfügung? „Die Notation war früher wirklich sehr andersartig, ungleich ärmer – es gab zwar Noten, jedoch kein Tempo, keine Pausen, Akzentuierungen und Ähnliches; genau das macht die Beschäftigung mit diesem Thema so interessant: man braucht Vorstellungskraft und Geschmack, man interpretiert „nur“, reflektiert, restauriert mit neuen Klängen und Instrumenten, die das Gefühl, die Vitalität und Kraft sowie die für diese Zeit typische Idee des Grotesken beinhalten. Die Mehrheit von uns ist in mittelalterlichen Siedlungen aufgewachsen, so daß wir die Kraft der Steine, der alten Zeiten und Traditionen über uns fühlen – es ist wie eine Berufung. Zu sogenannten Institutionen haben wir allerdings wenig Kontakt. Italien ist zwar kulturell und geschichtlich reich, doch haben jene selten eine moderne Herangehensweise an Geschichte und Kunst, so daß sich die Jugend immer weiter davon entfernt. Diese Einrichtungen wollen nur Leute, die der Tradition vorbehaltlos, ohne Vorstellungskraft, Veränderung und Fortschritt ergeben sind. Immerhin arbeiten wir mit einigen Stadträten zusammen und sind des öfteren in Burgen, Höfen, alten Plätzen oder Mittelaltermärkten aufgetreten, zumeist mit einem Akustik-Set.“ Wenn wir schon von Zusammenarbeit sprechen – gab es solche eigentlich auch schon mit anderen Bands? „Francesco Banchini (Perc., Voc. – Anm. d. Verf.) ist noch bei der Band Gor dabei, die ein Album namens „Bellum Gnosticorum“ auf dem französischen Prikosnovenie-Label veröffentlicht hat. Sie spielen frühe Musik mit mediterranen und orientalischen Einflüssen auf rein akustischen Instrumenten mit viel Percussion. Natürlich haben auch wir anderen Anfragen dieser Art gehabt, doch scheiterte es bisher immer an der Zeit, da wir so viele unterschiedliche Ideen für ATARAXIA haben, daß wir uns entschieden haben, alle Kraft nur dieser Band zu widmen. Na ja, Francesca (Nicoli, Voc., Fl. – Anm. d. Verf.) hat auf dem ersten Monumentum-Album mitgesungen, und ich werde eventuell ein Solo-Album veröffentlichen.” Italien war stets Schmelztiegel zwischen Europa, Afrika und Asien und blickt auf eine lange Tradition zurück – ist es ein Anliegen von ATARAXIA, diese Tradition lebendig zu erhalten? Inwieweit seht ihr euch als Kosmopoliten? Würde ATARAXIA genau so klingen, wenn die Mitglieder nicht Italiener wären? „Italien hat wirklich Hunderte von Einflüssen – neben den Genannten wären z.B. Kelten und Goten zu nennen, Franzosen, Spanier – wirklich ein verrückter Schmelztiegel. Wir selbst leben in der Emilia Romagna, die im Winter ein bißchen Ähnlichkeit mit England und Irland aufweist: weite Ebenen, dichter Nebel, feuchtes Wetter... Auf dem Hügel hinter unserem Aufnahmestudio sind viele keltische Hinterlassenschaften; zugleich gibt es auch römische und mittelalterliche Flecken. Wir fühlen uns auf halbem Weg zwischen den mediterranen und den nordischen Traditionen und Kulturen, ein Land des Treffens – wir tragen auf uns die Zeichen grausamer Schlachten und brillanter Entdeckungen. Doch du hast recht – wir sind hier, um diese Traditionen weiterzugeben, um die Unterschiede und Gemeinsamkeiten am Leben zu erhalten. Natürlich sind wir Weltbürger, denn wir sind neugierig; wir möchten unsere Kultur in fremde Länder tragen und gleichzeitig von diesen lernen. Der Reisende, der Pilger verläßt sein Land, um andere Menschen kennenzulernen und kehrt zurück, um sich selbst zu finden. Den letzten Teil der Frage muß ich mit Ja und Nein beantworten – unsere kulturellen Einflüsse sind fundamental, doch ebenso unsere Veranlagung, Dinge zu bewegen, Musik und Kreativität auszuleben.“ In der Neo-Folk-Szene haben viele Bands ein heidnisches, vor allem nordisches Image – ihr aber passend zu eurer Herkunft nicht – ganz im Gegenteil: ihr benennt euch nach einem philosophischen Begriff eures Kulturkreises. „Natürlich sind wir unter dem Stern des Südens geboren, doch das schließt Interesse an anderen Kulturen, Glaubensrichtungen und künstlerischen Ausdrucksweisen nicht aus – im Gegenteil: wir wollen beobachten, lernen, wir sind ungeheuer neugierig! Aber wir folgen unserer eigenen Vorstellung, unserem Weg, nie dem Mainstream, auch in der Folk-Musik-Szene. Wir wissen nicht einmal, ob wir Folk-Musik machen – es ist das, was es ist: eine fremdartige, bizarre Schöpfung. Doch wenn uns jemand eine Geschichte zu erzählen hat – her damit! Unsere Musik, unsere Kunst und wir selbst sind das Produkt der gesammelten Geschichten am Rand unseres Weges. ATARAXIA sind einige italienische Künstler, die ihr Leben völlig dem Schaffen gewidmet haben. Wir sind fahrende Musikanten und „evanescent warriors“, die den Schlüssel der Erkenntnis suchen, wir möchten Kanäle für Geschichte und Zeit sein, mit einem Auge in der Vergangenheit und dem anderen direkt in die Zukunft. Die alten Geister sprechen immer noch.“ Getreu dem Motto auf eurer Website, daß “ancient stones and water“ zu euch sprechen, müßte es euch trotz aller technischer Probleme auf Burg Rabenstein sehr gefallen haben – der Regen, die Nacht, das alte Gemäuer – es lag ein bißchen Magie in der Luft... Wann werden wir wieder Gelegenheit haben, euch live zu erleben? „Am liebsten sofort! Sobald „Sueños“ veröffentlicht sein wird (im Februar), wird die nächste Tour organisiert. Neben Italien werden wir auch in Argentinien auftreten. Und wir wären geehrt und erfreut, wieder in Deutschland spielen zu dürfen, nachdem wir in den letzten Jahren dort wunderbare Locations hatten, Burgen, das Völkerschlachtdenkmal usw. Patty Hele von Mother Dance kümmert sich darum, und hoffentlich klappt es bald, da wir in Deutschland stets großartige Resonanzen ernten konnten, besonders mit unserem Mittelalter-Set. Auf unsere Website http://www.ataraxia.net/ stehen die aktuellsten Informationen zu diesem Thema. Ansonsten danken wir dir und dem Legacy – love, light and strength!“

Martin Graf